Tudo é differente - alles ist anders

Tudo é differente - Alles ist anders

„Tudo é differente!“, diesen Satz habe ich in den vergangenen Woche wohl am häufigsten gesagt. Seitdem ich Mitte August zum ersten Mal in meinem Leben die westliche Welt verlassen habe, stelle ich einige Unterschiede zwischen Deutschland und meiner hiesigen Heimat, dem Nordosten Brasiliens, fest. Aufgrund meiner noch nicht allzu großen Sprachkenntnisse fällt es mir dann manchmal schwer, meinen Mitmenschen meinen erstaunten Gesichtsausdruck zu erklären. So hat sich der Satz „Tudo é differente!“ inzwischen eingebürgert, wenn ich meine Verwunderung über das Andere der brasilianischen Kultur nicht so recht in Worte zu fassen weiß.

Brasilien - das Land der Sonne

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Mit meiner Gast begrüße ich zum ersten Mal das Meer

„Aber warum ist denn alles so anders hier?“, frage ich mich immerzu. Meistens kommt die Antwort direkt von oben, könnte man sagen; von der immer strahlenden Sonne.

Warum leben die Menschen in so einfachen Häusern? – Weil die Häuser keinen eisigen Temperaturen standhalten müssen.

Warum duschen die Menschen mindestens drei Mal pro Tag? – Weil die Haut nach wenigen Stunden vom Schweiß ganz klebrig ist.

Warum essen die Menschen hier so viel? – Weil die Hitze den Körper viel Energie abverlangt.

Warum scheinen die Nachmittagsstunden die leisesten des gesamten Tages zu sein? – Weil es nahezu unmöglich ist, in der heißen Nachmittagssonne zu arbeiten bzw. sich zu bewegen.

Warum legen sich die Menschen nachmittags in eine Hängematte und nachts meistens in ein Bett? – Weil es tagsüber im Bett viel zu warm ist, um dort zu schlafen oder auszuruhen.

Parnaíba - die Stadt des Windes

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Max (ein weiterer Freiwilliger von Sofia, der mich in Parnaíba besuchte) und ich auf einer Sanddüne

Doch hier in Parnaíba „nós somos bem“, („haben wir‘s gut“) pflegen die Menschen zu sagen, wenn man über das Klima spricht. Denn hier am Meer weht täglich der wunderbare Wind, der alles leichter macht. Das Meer, das keine 10 km entfernt ist, sorgt für ein recht maritimes und somit gemäßigteres Klima, als es in den Interiors der Fall ist. Erzähle ich den Menschen von meinen Mitfreiwilligen hier in Brasilien, die weiter im Landesinneren (den Interiors) wohnen, ist der erste Kommentar:“Oh, quenche, quenche!“; was so viel bedeutet wie „Oh je, da ist es ganz schön warm!“. Dem muss ich zustimmen, denn ich konnte Max und Kim bereits im Interior besuchen. Nachmittags brannten meine Augen von der Hitze und meinem erschöpften Körper, sodass ich oft zwei oder drei Stunden mitten am Tag schlief. Hier in Parnaíba fällt es mir leichter, mich auch in der Nachmittagshitze zu konzentrieren. Abends bei „nur“ 26 Grad finde ich es dann bei starkem Wind schon etwas frisch und ziehe mir auch lange Kleidung an.

Außerdem verfügen wir in der Stadt über viel Wasser, was ebenfalls ein großer Luxus im sonst so trockenen Nordosten Brasiliens ist. In Piauí und angrenzenden Staaten stellt der Wassermangel landeinwärts ein großes Problem für die Menschen dar.

Bairro Cearra – Mein Dorf

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Ein kleiner Teil unserer Kirchengemeinde, in die ich bereits herzlich aufgenommen wurde

Die Stadt Parnaíba ist in viele Viertel unterteilt. Das Viertel, in dem ich wohne, heißt „Cearra“ und scheinbar kennt sich hier fast jeder, wie in einem kleinen Dorf. Diese Gemeinschaft geht aber über das täglich Sich-Grüßen und die wöchentlichen Kirchenbesuche hinaus. Wenn ich mit meiner Mutter zur Maniküre gehen möchte, dann kennt sie da jemanden in der Nachbarstraße, der das super macht. Möchte ich Kleidung oder etwas Anders kaufen, dann gehen wir zu den Geschäften, deren Besitzer wir gut kennen. Und wenn ich mal etwas brauche, wozu meine Familie keine direkte Adresse kennt, werden erst mal Familienmitglieder und –freunde gefragt, ob sie jemanden kennen, der jemanden kennt. Irgendwie ist diese Gemeinschaft sehr schön, denn da ich nun hier zu meiner Gastfamilie gehöre, stehen mir unglaublich viele Türen offen. Durch die Aufnahme in meine Gastfamilie und in meine Arbeitsstelle empfinde ich einen großen Vorteil im Alltagsleben.

Hier ein glückliches Leben ohne meine Gastfamilie oder meine Arbeit zu führen, scheint mir unvorstellbar. Bei dem Gedanken frage ich mich, wie Menschen, die zurzeit in Deutschland leben, ohne eine einheimische Familie, ohne Arbeit und ohne unsere Sprache zu sprechen, ihren Alltag meistern. Auch in Deutschland schließen sich viele Türen für Menschen, die eben keine Kontakte haben. In diesem Punkt sind die Kulturen sich dann doch nicht so fern.

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Erstes Mal Krebsessen mit meiner Familie

Wobei ein fremder Mensch hier in Parnaíba mit sehr viel mehr Herzlichkeit empfangen und begrüßt wird, als ich es von Deutschland gewohnt bin. Man kommt auch schneller ins Gespräch miteinander. Ob Mann oder Frau, fast jeder weiß irgendetwas zu erzählen. Meistens reden die Menschen mit mir über das Privatleben wie die Familie, Sport, Hobbies oder Religion. Die Arbeit scheint für viele in meinem Umkreis zweitrangig zu sein. Besuchen uns Bekannte, Freunde oder Familienmitglieder zur Mittagszeit, werden sie selbstverständlich zum Essen eingeladen. Bevor ich hier einzog, haben in meiner Gastfamilie bereits vier Verwandte oder Freunde der Familie für eine längere Zeit gewohnt, damit sie in der Stadt studieren oder arbeiten gehen konnten. Ich glaube, diese Gastfreundschaft lässt sich auch von der immerwährenden Dankbarkeit der Menschen ableiten. Die Ausrufe „Gracas a Deus!“  (Dank sei Gott.) und „Se Deus quere!“ (Wenn Gott so will.) finde ich in nahezu jeder Konversation wieder.

Andere Lebensumstände – Andere Denkweisen

Mein erster Rundbrief würde einen falschen Eindruck vermitteln, wenn ich nicht den offensichtlichsten Unterschied ansprechen würde; die vergleichsweise einfachen Lebensumstände der Menschen hier. Darüber zu schreiben, fällt mir schwer, denn ich lebe erst seit kurzer Zeit hier und habe natürlich noch nicht viel von den Gesellschaftsstrukturen verstehen können. Ich weiß nur, dass ich noch nie so einfach gelebt habe. Das ist nicht zwangsläufig bedrückend, sondern kann sich auch sehr befreiend anfühlen. „Not macht erfinderisch“, erklärte mein Erdkundelehrer, als wir die Erfindung der Nähmaschine im Unterricht besprachen. Sicherlich leidet mein direktes Umfeld hier nicht unter Armut oder einer großen materiellen Not. Dennoch kann ich die Idee dieses Leitspruches ständig im Alltag wiederfinden.

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Übergabe meiner Gastgeschenke an die Familie in der Garage.

Zum Aufbewahren von Hülsenfrüchten werden Plastikflaschen verwendet, tagsüber steht das Auto nicht in der Garage, sodass wir diese als Aufenthaltsraum nutzen können, alte bzw. nicht mehr brauchbare Kleidungsstücke werden von meiner Gastmutter zu Teppichen verarbeitet und so weiter. Diese Denkweise bewundere ich sehr.

Was mir diese ersten Monate  insgesamt am meisten verdeutlicht haben, ist wohl, wie sehr ein Land und seine Menschen vom dortigen Klima geprägt und abhängig sind. Viele Gewohnheiten der brasilianischen Kultur mögen auf den ersten Blick faul, verschwenderisch, arm oder chaotisch wirken. Wenn ich genauer hinsehe, entdecke ich, dass sich viele Verhaltensweisen vom Klima ableiten lassen. Auch das Gefühl, Fremder zu sein und vor allem auch als solcher wahrgenommen zu werden, empfinde ich zum ersten Mal in meinem Leben sehr stark.

Brasilianische Gastfreundschaft

 Tausend neue Gedanken durchströmen täglich meinen Kopf. Ich bin noch sehr unsortiert und habe noch keinen richtigen Alltag gefunden. Mein erster Rundbrief beschreibt einige wenige dieser Eindrücke. Mir geht es hier gut. Ich komme den (sprachlichen) Umständen entsprechend gut mit meiner Arbeit im Kinderhort zurecht und fühle mich sehr wohl in meiner Gastfamilie. Jeder Tag steckt voller neuer Erlebnisse und schöner Begegnungen. Die Willkommenskultur hier in Parnaíba, die mir weiterhin täglich begegnet, beeindruckt mich sehr. Die Gastfreundschaft geht über die mir bekannte aus Deutschland hinaus. Oft erinnert sie mich an folgendes Bibelzitat:

Wer aber den zeitlichen Lebensunterhalt hat und seinen Bruder darben sieht und sein Herz vor ihm zuschließt – wie bleibt die Liebe Gottes in ihm? Kindlein, lasst uns nicht mit Worten lieben noch mit der Zunge, sondern in der Tat und Wahrheit. (Johannes 3,17)
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Meine Arbeitsstelle „Projeto Social Santa Terezinha“; vergleichbar mit einem Kinderhort.

Auch wenn ich hier sicherlich nicht „darben“ muss, bin ich doch täglich auf die Unterstützung meiner Mitmenschen angewiesen. In der kurzen Zeit, die ich nun hier verbringen durfte, wurde ich schon unzählige Male eingeladen und in fremden Gruppen mit offenen Armen begrüßt. Dafür bin ich sehr dankbar.

In all meinen Rundbriefen kann ich nur über meine persönlichen Erfahrungen hier vor Ort schreiben. Brasilien ist von seiner Fläche her fast so groß wie ganz Europa. Dementsprechend können meine Eindrücke nicht auf die gesamte Region des Nordostens oder das ganze Land Brasilien bezogen werden. Selbst Parnaíba werde ich nur von einigen Seiten kennenlernen. Es ist mir wichtig, dass ihr das beim Lesen all meiner Rundbriefe berücksichtigt.

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In einen Alltag habe ich, wie gesagt, noch nicht so recht finden können. Deswegen möchte ich auf mein Projekt bzw. meine Arbeit, meine Gastfamilie und meine Freizeitbeschäftigungen erst im nächsten Rundbrief genauer eingehen. In zwei Monaten werde ich mit Sicherheit einen Alltag haben.

Vielleicht habt ihr ja Fragen oder ihr möchtet Gedanken zu meinem Rundbrief loswerden? Schreibt mir gerne.

Ich sende euch viele liebe Grüße,

Angela


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