Durchkreuzte Erwartung

Durchkreuzte Erwartung

Das Datum steht seit Anfang Januar unübersehbar in meinem Terminkalender: Heute, am letzten Schultag vor den Osterferien sollte er stattfinden, der „Kreuzweg der Oberstufe“. Leicht ironischer Titel eigentlich, aber eine traditionsreiche Veranstaltung an unserer Schule, ein Angebot für Schüler der MSS, immer in der Fastenzeit, jedes Jahr, solange ich die Schule kenne und schon viele Jahre davor durch Harald Orth, den langjährigen Schulseelsorger. Jedes Schuljahr: Mit 50 Schülerinnen und Schülern fahren wir nach Winningen, laufen dann nach Kobern-Gondorf, und gehen meditierend den Kreuzweg am Berg Richtung Matthias-Kapelle hinauf. „Kreuze unserer Zeit“ heißt diese Meditation auch: Die 14 traditionellen Kreuzwegstationen, jedes Jahr aktualisiert von den Schülerinnen und Schülern. Wir fragen uns: Was sind dieses Jahr die Kreuze, denen wir in unserem und dem Leben anderer begegnen? Diese Menschen nehmen wir mit zum Kreuz Jesu. Originelle Texte von Mitschülern, Lieder die wir gemeinsam singen und eine dichte Atmosphäre im Nachdenken über all die vielen Menschen, die Kreuze tragen in unserer Zeit, dazu die Fernblicke über die Mosel beim Höhersteigen, das gemeinsame Picknick zum Abschluss. Immer wieder vertraut, immer wieder anders. Jedes Jahr.

Nicht in diesem Jahr. Wo der Termin eingetragen war, steht im Terminkalender jetzt selbst ein dickes Kreuz. Fällt aus. Bei der Schulschließung vor drei Wochen rief mir ein Schüler aus der 12 zu: „Wie schade, dass dieses Jahr der Oberstufenkreuzweg nicht stattfinden kann!“ Einer dieser vielen, vielen Termine in diesem Jahr, die für immer reine Vorstellung bleiben werden, so wie die Olympiade 2020, die Bayreuther Festspiele. So wie der Osterurlaub bei den Schwiegereltern, die Bundesjugendspiele, der Abi-Ball. So wie der Soliweg der Unterstufe, die Studienfahrten, die Erste Heilige Kommunion am Weißen Sonntag, die Osternachtsmesse und – besonders bitter – die feierliche Beerdigung von einem, den viele kannten. So wie… jeder kann hier dieser Tage etwas einsetzen: Familienfeste, auf die man sich lange gefreut hat, Urlaube, Treffen mit lieben Menschen, lang Erträumtes.  Durchkreuzte Erwartung. Wir, die wir es gewohnt sind, dass unsere Pläne Wirklichkeit werden, für uns ist das etwas Neues.
Aber vielleicht ist es genau diese Erfahrung, die uns den Kreuzweg zur Matthiaskappelle dennoch hinaufsteigen lässt - in Gedanken zumindest? Im Gepäck haben wir die Menschen, von denen wir ahnen, dass sie die wirklichen Kreuze unserer Zeit tragen. Zum Beispiel die Flüchtlinge, die immer noch an der griechischen Grenze auf ihre ungewisse Zukunft warten; den älteren Freund, der seit drei Monaten weiß, dass seine Tage gezählt sind und der heute am Telefon zu mir sagte: „Mir geht es gut, ich bin zufrieden.“; die Frau, die eine Gewalterfahrung nicht verschmerzen kann; die Virus-Infizierten in der Isolation; das Kind mit der großen Traurigkeit…

Wer sagt, dass der Kreuzweg 2020 nicht stattfindet?
14 Kreuzwegstationen, die kriegen wir doch gefüllt! Auf geht`s!

Überlege, egal, wer Du auch bist: Wen nimmst Du in diesem Jahr mit zum Kreuz Jesu an der Bergesspitze? Wer geht mit auf diesem Kreuzweg 2020? Vielleicht schreibst Du den Namen auf und legst ihn, wenn nicht auf den Weg in Kobern-Gondorf, so doch an ein Kreuz in deiner Wohnung. Und nimmst ihn mit zum Karfreitag, der dennoch stattfindet, und zu Jesus, der sein Leben unbegreiflich freiwillig hat durchkreuzen lassen, und sagt: „Kommt alle her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid!“ (Mt 11,28)                          

Der Kreuzweg 2020 findet statt!         

(Beatrix Mählmann, 03.04.20)