Die Abiturientenakademie 2020

Nie wieder Auschwitz! Erinnerung wachhalten – Gegenwart gestalten  

Nachdem die Zeitzeugin Henriette Kretz leider kurzfristig krankheitsbedingt absagen musste, begannen die Akademietage am Donnerstagmorgen in der Jugendbildungsstätte Sonnenau in Vallendar. 60 Schülerinnen und Schüler sowie 7 Lehrerinnen und Lehrer arbeiteten in vier thematischen Schwerpunktgruppen, bis man sich am Freitagmorgen in Rahmen einer Abschlusspräsentation einen gegenseitigen Einblick in die jeweiligen Gedankenwelten gewährte. Eine Arbeitsgruppe legte ihren thematischen Schwerpunkt auf die „Enkel*innen des Krieges“.

„Dort tauschten wir uns zu Beginn über unsere persönlichen Familiengeschichten bezüglich des Zweiten Weltkrieges aus, also vor allem über die Erfahrungen unserer Großeltern. Danach haben wir uns über die aktuelle Situation in Deutschland unterhalten, insbesondere wie wir das Thema Zweiter Weltkrieg in der heutigen Zeit behandeln. Dabei sind wir auch auf Unterschiede zwischen den verschiedenen Generationen eingegangen. Des Weiteren haben wir uns mit der schwierigen Frage auseinandergesetzt, inwiefern wir für die schrecklichen Taten des Krieges heute noch Verantwortung tragen. Ein leitendes Zitat dazu war für uns eines von Max Mannheimer, einem Holocaust-Überlebenden: ‚Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht.‘ Im weiteren Verlauf des Tages befassten wir uns mit Biografien, Briefen und weiteren Materialien, die den Zweiten Weltkrieg thematisierten. Dadurch kamen wir zu dem Schluss, dass die Erinnerung an die grausame Zeit für traumatisierte Menschen und deren Nachfahren nicht nur positive, sondern auch negative Folgen haben kann. Das Trauma der Eltern, die den Krieg miterlebt haben, wird eben oft an die Kinder weitergegeben. Verwandte können sich spalten, wenn die Rolle der Vorfahren im Krieg bekannt wird, Menschen können an der „indirekten“ Schuld ersticken und das Schamgefühlt über diese Zeit kann zu Hass auf die Opfer führen, also zu Antisemitismus in Form eines Schuldabwehrmechanismus. Trotzdem ist es extrem wichtig, weiterhin Gedenk-Arbeit zu leisten, es sollte kein Schlussstrich gezogen werden. Der Rechtsruck von heute beweist, dass der Holocaust nicht vergessen werden sollte, denn so etwas darf nie wieder passieren. Die Erinnerung bietet den Menschen Halt und die Möglichkeit, eine neue „Ideologie“ zu finden, die sich deutlich gegen jede Form von Rassismus und Faschismus stellt. In diesem Zusammenhang kam dann in unserer Gruppe die kritische Frage auf, ob das ritualmäßige Gedenken an den Holocaust nicht zu einer Abschwächung des Verantwortungsgefühls, der Empfindung und der Wahrnehmung für das Grauen führe. Wir waren uns alle einig, dass neue Formen des Gedenkens und der Erinnerung dringend notwendig sind.“, so Katja Staudt.

Mit eben dieser Erinnerungskultur beschäftigte sich eine andere Arbeitsgruppe im Speziellen. Leonie Wilke schreibt darüber:

„Sich nach 75 Jahren mit dem Thema ‚Auschwitz‘ oder dem Nationalsozialismus zu beschäftigen, fällt nicht immer leicht, denn dem Leid, welches die Menschen während des zweiten Weltkriegs erfahren mussten, kann nichts gerecht werden. Dennoch ist es umso wichtiger, genau das in Erinnerung zu bewahren und dafür zu sorgen, dass diese Ereignisse sich nicht wiederholen. In unserem Seminar durften wir uns mit der Erinnerungskultur nach 1945 beschäftigen und arbeiteten heraus, inwiefern wir heute in der Lage dazu sind, dafür zu sorgen, dass keines der Opfer in Vergessenheit gerät. Jeder Teilnehmer hatte die Möglichkeit, seine Meinungen, Bedenken und Anregungen zum Thema beizutragen, was zu regem Gedankenaustausch führte und schließlich zu vielen verschiedenen Ideen. Ziel unseres Workshops war es, ein modernes Konzept zu entwickeln, das das Vergessen unmöglich machen soll – ob Mahnmal, Stolpersteine mit individuellen Schicksalen oder Romanentwürfe. All das selbst zu gestalten, sorgte für eine besondere Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit der Thematik, denn es regte zum Nachdenken an und dazu, die Ereignisse aus vorher nicht dagewesenen Perspektiven zu verarbeiten. Es ist wichtig, dass jeder von uns anfängt, zu erinnern – und es ist wichtig, dass wir niemals damit aufhören.“

„Im Seminar ‚Aufarbeitung der NS-Verbrechen‘ haben wir unterschiedliche Gerichtsverfahren gegen ehemalige Nationalsozialisten näher betrachtet“, berichtet Lena Baulig. „Dazu nahmen wir die Frankfurter Auschwitzprozesse, das Gerichtsverfahren gegen Adolf Eichmann und den Prozess gegen den sogenannten ‚Buchhalter von Auschwitz‘, Oskar Gröning, genauer unter die Lupe. Wichtig für diese Auseinandersetzung war das Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen“ von der Philosophin Hannah Arendt, die dabei Eichmann als einen ‚normalen Menschen‘ charakterisierte. Eichmann war hauptverantwortlich für den Transport von schätzungsweise sechs Millionen Menschen. Diese Transporte organisierte er vom Schreibtisch aus. Wir erkannten schnell, dass banale (Schreibtisch-)Aufgaben von ‚normalen‘ Menschen genauso zur Ermordung von Unschuldigen beigetragen hatten wie auch diejenigen, die direkt Menschen erschossen oder in die Gaskammern brachten. Auschwitz und die anderen Konzentrationslager waren große Mordmaschinerien und alle, die dort arbeiteten, hatten dazu beigetragen, dass diese Maschine immer weiter laufen konnte und haben sich somit schuldig gemacht. Wir haben während dieser beiden Tage aber nicht nur zurück in die Vergangenheit geblickt, sondern auch die aktuelle politische Entwicklung in den Blick genommen. Dabei lag unser Fokus auf den Parteien, die Geschichtsrevisionismus betreiben und mit ihren Aussagen den Holocaust als unbedeutend erscheinen lassen wollen. Durch die Abiturienten-Akademie haben wir viel über die Vergangenheit gelernt, aber auch von der Vergangenheit, sodass wir für die Zukunft über ein neues Bewusstsein gegenüber dem Holocaust verfügen.“

Das Seminar mit dem Titel „Die schmerzhafte Kinderstube der Nazi-Generation“ beschäftigte sich mit der fundamentalen Frage, wie aus Kindern Nazis werden können. Zunächst spürten wir der Kindheit der im Hitler-Deutschland lebenden Erwachsenen anhand von Michael Hanekes Film „Das weiße Band“ nach und diskutierten verschiedene Formen schwarzer Pädagogik. Insbesondere der von Theodor W. Adorno et al postulierte autoritäre Charakter kristallisierte sich als ein prägnantes Strukturelement heraus, dass es uns erlaubte, unsere Gedanken weit über den historischen Nationalsozialisten – den zwischen 1933 und 1945 lebenden Deutschen – hinaus zu tragen und patriarchalische Strukturen und diverse Formen von Gewalt als Erklärungsmuster für gesellschaftliche Missstände ausfindig zu machen, und das eben unabhängig von einer bestimmten historischen Zeitspanne. Über die Begriffe Freiheit und Verantwortung innerhalb mannigfach determinierter (Sub-)Systeme gelangten wir zu individuellen Bewertungen, warfen dabei aber stets auch einen kritischen Blick auf die Warte, von der Schuldzuweisungen ausgehen, sowohl z. B. in Hinblick auf die Deutschen im Dritten Reich als auch auf die aktuelle politisch-gesellschaftliche Dimension, in der Antisemitismus, Sexismus, Rassismus und andere Formen der Stigmatisierung wieder salonfähig zu werden scheinen.

Es bleibt der freudige Eindruck, dass die Erkenntnisse dieser Akademietage nicht nur von theoretischer Natur beschaffen sind, sondern in näherer und fernerer Zukunft gleichermaßen handlungswirksam werden.

Von Katja Staudt, Leonie Wilke, Lena Baulig und Alexander Barth